Unsere Geschichte - Deine Geschichte

Salomea Ochs Luft
  • „Meine Teuren!

    Bevor ich von dieser Welt gehe, will ich Euch meine Liebsten einige Zeilen hinterlassen. Wenn Euch einmal dieses Schreiben erreichen wird, bin ich und wir alle nicht mehr da. – Unser Ende naht. Man spürt es, man weiß es. Wir sind alle, genau so wie die schon hingerichteten, unschuldigen, wehrlosen Juden zum Tode verurteilt. Der kleine Rest, der seit den Massenmorden noch zurückgeblieben ist, kommt in der allernächsten Zeit (Tage oder Wochen) an die Reihe. Es ist schauderhaft, aber wahr. Leider gibt es für uns keinen Ausweg, diesem grauenhaften, fürchterlichen Tode zu entrinnen.“ 

    Dies schrieb die jüdische Pianistin Salomea Ochs Luft 1943 kurz vor ihrer Deportation an ihre Familie nach Israel, wohlwissend, dass sie die nationalsozialistische Gefangenschaft nicht überleben würde. Zu diesem Zeitpunkt lebte Salomea im Ghetto von Tarnopol, nachdem die Musikerin aus ihrer Wohnung vertrieben worden war. Sie hatte bereits die Ermordung ihrer Mutter, ihres Ehemannes und anderer Familienmitglieder durch die Nationalsozialisten erlebt, und erwartete nun ihr eigenes Ende.

    Dem nahenden Tod ins Auge blickend verfasste Salomea einen Aufruf an ihre Verwandte in Israel, aber auch an jede*n Einzelne*n, der*die diesen 12 Seiten Brief in der Zukunft lesen sollte:

    „Meine Lieben!

    David liegt am jüdischen Friedhof, meine Mutter weiß nicht wo, sie wurde nach Belzec verschleppt, wo ich begraben sein werde, weiß ich nicht. Wenn Ihr vielleicht nach dem Kriege herkommt, dann werdet ihr bei Bekannten erfahren, wo die Transporte des Lagers hingerichtet wurden.

    Es ist nicht leicht, Abschied für immer zu nehmen, aber wir gehen schon lachend in den Tod.

    Lebt wohl, lasset es Euch recht gut gehen und wenn Ihr könnt, dann nehmt einst. RACHE!“

    Rache – dieser Begriff ruft viele Assoziationen hervor. Aber was bedeutet er eigentlich? Können die Grausamkeiten des Dritten Reiches überhaupt gerächt werden? Und wie kann man der Aufforderung von Rache heute begegnen?

    Mit diesen Fragen setzte sich auch Nur Ben Shalom, der Großneffe von Salomea Ochs Luft, auseinander. Im Alter von sechs Jahren hat Nur Ben Shalom diesen Brief zum ersten Mal gelesen. Nur ist – wie seine Großtante Salomea – Musiker; während Salomea Pianistin war, spielt Nur die Klarinette. Er wurde als Nachfahre der im Brief adressierten Familienmitglieder von Salomea Ochs Luft in Israel geboren. In Israel war es normal, von Holocaustüberlebenden umgeben aufzuwachsen, und so ständig mit den Geschichten und Zeugnissen aus der Zeit des Nationalsozialismus konfrontiert zu werden. Die Aufforderung Rache zu nehmen begleitete Nur – als Holoaustüberlebender der dritten Generation – somit sein ganzes Leben. Als Musiker war Nur Ben Shalom besonders den musikalischen Geschichten aus dem Holocaust verbunden, und suchte dort Antworten auf die von Salomea aufgeworfene Aufforderung. Er kam zu dem Schluss, dass es auf die Fragen verbunden mit der Aufforderung nach Rache keine korrekte Antwort gibt. Die Rache, wie Salomea Ochs Luft sie forderte, kann ihr heute nicht gegeben werden.

    Nur Ben Shalom erkannte, dass sein Weg mit Salomeas Bitte umzugehen ist, die Stimmen derer, die zum Schweigen gebracht wurden, wieder erklingen zu lassen. Als Musiker sieht Nur seine Aufgabe darin, die Musik, die die jüdischen Meschen im Angesicht des nahenden Todes bewegt hat, zusammen mit den Lebensgeschichten, bekannt zu machen. Dies ist eine Transformation der Rache – ein Weg, um die eigentlich zum Schweigen gebrachten Stimmen wieder zum Leben zu erwecken und nicht in Vergessen geraten zu lassen.

  • Wie Salomea wurden auch andere jüdische Musiker*innen in der Zeit des Nationalsozialismus gewaltsam ihres Kunstwerks, oder noch schlimmer, ihres Lebens beraubt. Beispiele dafür gibt es zahlreiche, wie zum Beispiel Shmuel Blasz, Pnina, Gottlieb’s Tochter, oder Ida Pinkert.

    Die Lebensmelodien haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Werke und Geschichten dieser Menschen wieder zum Leben zu erwecken. Nur Ben Shalom gründete die Lebensmelodien, nachdem er vor 15 Jahren nach Deutschland zog, um den Menschen einen anderen Aspekt der Erinnerung nahezubringen. Die Lebensmelodien möchten das Schweigen, dass durch die Ermordung und Verschleppung zahlreicher jüdischer Musiker*innen erzeugt wurde, beenden, und diesen Personen wieder eine Stimme geben. Denn hinter all den von den Nationalsozialisten Ermordeten stehen die Geschichten von einzelnen Personen, die Träume, Wünsche und einzigartige Talente haben.

    An diese individuellen Geschichten wollen wir uns erinnern. Musik hat den jüdischen Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus geholfen und sie begleitet. Die Melodien sind manchmal traurig, manchmal froh - manchen Menschen haben sie dabei geholfen, zu überleben, manchen Abschied zu nehmen. Auch wenn wir sie nicht persönlich kennenlernen können, leben die Menschen in den Melodien weiter. Daher gibt es für uns heute keinen besseren Weg, um uns mit den einzelnen Menschen und ihren Lebensschicksalen zu verbinden, als den Melodien und Geschichten zu lauschen, und sie weiterzutragen.

  • Am 19. April 2019 wurde ein besonderer Gottesdienst zum Karfreitag in der Schöneberger Apostel-Paulus-Kirche gefeiert. Denn dieser Karfreitag fiel mit dem Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto zusammen. Im Gottesdienst wurde dem Tod des Juden Jesus am Kreuz und dem Tod der Juden in den Ghettos während des Holocausts gedacht. Im Mittelpunkt des Gottesdienstes stand der Brief von Salomea Ochs Luft. Dies war das erste Mal, dass die Lebensmelodien in diesem Format vor einem Publikum erklangen.

    Berlin-Schöneberg war ein Zentrum des blühenden jüdischen Lebens in Deutschland vor dem zweiten Weltkrieg. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten und der Vertreibung und Ermordung der Jüd*innen in Europa ändert sich dies drastisch. Die Lebensmelodien wollen die Geschichten und Melodien wieder zurück nach Europa, Deutschland, und Berlin bringen. Wir sind dankbar, dass unser Anliegen von dem evangelischen Kirchenkreis Tempelhof- Schöneberg so tatkräftig mitgetragen und unterstützt wird. Der Superintendent des Kirchenkreises Tempelhof-Schöneberg, Michael Raddatz, war von Anfang an ein Unterstützer der Lebensmelodien. Für ihn bringen die Lebensmelodien nicht nur die Geschichten der entmenschlichten Verfolgten wieder zurück, sondern er erklärt: “Freundschaft, Mut, Würde, Widerstand, sie sind in den Lebensmelodien bewahrt.”

    Durch die Musik wird eine Verbindung geschaffen, zwischen der Person im Holocaust und den Menschen heute, die die Melodien und Geschichten hören, selbst spielen und weitertragen. Jede einzelne Geschichte ist ein Puzzlestück, ein Lebensschicksal. Es sind private Geschichten, aber wenn man sie zusammensetzt, ergibt sich ein größeres Bild. Die Geschichten und Melodien erlauben uns einen Einblick in eine Kultur und ein Verständnis dafür, was gewesen ist. Die Lebensmelodien bringen Dinge zurück, die jüdischen Menschen während des Holocausts weggenommen wurden. Indem wir die Melodien und Geschichten der Menschen erzählen und weitertragen, bringen wir etwas Neues in die Welt – etwas, was schon einmal da war, aber gewaltsam in die Vergessenheit gezwungen wurde. Auf diese Weise kann jede*r Teil der Lebensmelodien werden und sie weitertragen. Die Lebensmelodien und die dazugehörigen Geschichten werden Teil der Erinnerung von uns allen und helfen im Kampf gegen Antisemitismus.

    Auf diese Weise kann jede*r Einzelne von uns Rache nehmen an den Nationalsozialisten, indem wir gemeinsam an diese Menschen erinnern. Auch wenn Salomea, Shmuel und Ida ungerechterweise ermordet wurden, leben ihre Werke und Geschichten in uns weiter. Heute werden die Lebensmelodien von Meschen mit verschiedensten Hintergründen und an den unterschiedlichsten Orten gespielt; von Personen aus Deutschland, Frankreich, Israel, Tschechien, Argentinien oder Italien, von Grundschulkindern bis hin zu Rentner*innen, in Schulen, Kirchen, Synagogen, muslimischen Zentren, in Theatern, Konzert- oder Rathäusern. Diese Diversität zeichnet die Lebensmelodien aus – sie sind mehr als ein Ort oder eine Person, denn wir alle sind ein Teil von ihnen. Wir werden alle Zeug*innen dieser Melodien und der Geschichten dahinter, und es ist die Aufgabe von uns allen, diese weiterzutragen und in uns weiterleben zu lassen.

  • Die Lebensmelodien sind für uns mehr als nur eine Aufführung. Sie sind eine Reise, auch in uns selbst. Genauso wie die Zuhörer, werden wir Musiker während des Konzerts mit der Verzweiflung der Verfolgten konfrontiert, aber auch mit ihrer Hoffnung und ihrer Würde. Wir stellen uns beim Spielen Fragen und können oft keine Antwort finden. Die Konzerte der Lebensmelodien sind eine der intensivsten Konzerterlebnisse die wir je hatten. 

    Durch das Wiedererwecken dieser Stücke wollen wir das Gedächtnis jener bewahren, die verloren gegangen sind, und sicherstellen, dass ihr Erbe fortbesteht. Die vielfältigen Hintergründe und Nationalitäten der Mitglieder unseres Ensembles zeugen von der Kraft der Musik, Menschen ungeachtet ihrer Unterschiede zusammenzubringen. Durch die Lebensmelodien möchten wir Barrieren abbauen und andere dazu inspirieren, dasselbe zu tun.

  • Hast auch Du ein Konzert der Lebensmelodien gehört und möchten uns von Deinen Erlebnissen und Eindrücken berichten?

    Dann schreibe in der unten angehängten Kommentarfunktion Deine Geschichte der Lebensmelodien auf. Wir freuen uns, mit unseren Gästen in den Austausch zu treten und die Geschichten der Lebensmelodien auch in der heutigen Zeit weiterzutragen.

Lebensmelodien
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